Freitag, 5. Februar 2016

DER MANN, DER GLÜCK HATTE

Eines Tages hatte sie aufgehört, ihm zu schreiben. So vor 30 Jahren mußte es gewesen sein; über lange Monate hatten sie, die sich nicht kannten, einander mails geschickt, er ein wenig öfter ihr, sie ein wenig seltener ihm, doch immer hatte sie irgendwann wieder geantwortet; dann nicht mehr. Er glaubte zu wissen, warum; sie konnte von einer sporadischen Höflichkeit sein, die ihn krank machte, und er hatte zwei - dreimal in seiner Antwort zu einem Ton gegriffen, der sie verschreckt haben mußte. Vor einiger Zeit hatte er die 90 passiert, so genau zählte er nicht mehr mit, sie war dann um die 80 jetzt, lebte sie überhaupt noch? Er sah sie vor sich in ihrem Fernsehstudio wie damals, als sie 47 geworden war und er ihr zum Geburtstag ein Märchen geschrieben hatte, so war der e-mail-Wechsel in Gang gekommen. Seitdem hatte er sie nicht mehr eingeschaltet mit ihrer Wissenssendung und sie blieb immer ihre wunderschönen 47, mochte sie jetzt auch 30 Jahre älter sein in Wirklichkeit. Aber was war schon die Wirklichkeit, dachte er. In den letzten Jahrzehnten war nach und nach alles immer virtueller geworden, die Briefe, die Menschen, die Kriege, die Liebe. Papa, was ist das, die Wirklichkeit? hatte er einmal eine Vierjährige in einem Internet-Sandkasten fragen gehört. In den altmodischen Feuilletons erschienen verschrobene Klagerufe über den Verlust des Lebendigen, die er wehmütig las (höchstens die Kriege waren nicht mehr so blutig), aber vergangenes Jahr hatten sie dann ein Gerät erfunden, das er sofort gekauft hatte: einen Geistbild-Projektor. Nichts Esoterisches war das, sondern es funktionierte auf Knopfdruck: eine Art kleiner Sensor, so groß wie eine Münze, den man sich an den Kopf klebte und wenn man dann an jemanden dachte, drückte man drauf und hatte die Person auf seinem Monitor, oder Display, genau so wie man sie sich vorgestellt hatte. Er trug dieses Ding jeden Tag, zu Hause und auch auf der Straße, seine Innenwelt wurde zur Außenwelt, die Wirklichkeit so wie er sie in seinem Kopf sich bildete. Immer schon, dachte er, hatten die Menschen die Welt so gesehen wie sie selber waren, aber jetzt ging das einfach, komfortabel, zuverlässig und Verwirrnis entstand nicht mehr und Philosophieren hierüber war obsolet. Und schon gleich tippte er sich wieder an den Kopf und holte sich sie auf den Bildschirm. Da war sie, nicht lange nach ihrem 47. Geburtstag; er liebte ihre Haare, die von einem Fön, einem Studio-Luftzug, einer schnellen Bewegung des Kopfes verdreht, verweht um ihr Gesicht schwangen; er liebte es, wie sie sich auf Porträtphotos ihrer Homepage hatte photographieren lassen, ein bißchen posierend, aber nur ganz verhalten; und ach, er liebte das Mädchen in ihr, das er manchmal zu hören gemeint hatte in einer mail, einer Sendung; etwas ganz Einfaches, Vor-Erwachsenes, Argloses war da an ihn gekommen, es hatte eine verwandte Saite in ihm angerührt - - nach ein paar Sekunden fanden seine Augen zurück zum Bildschirm, und nun wurde er frech; in einem meerblauen BH stellte er sie sich vor, tipp, stand sie tatsächlich so da, er zog ihn ihr aus im Kopf, tipp, stand sie ohne da, dann ließ er ihr die Haare bis zu den Hüften wachsen, dann ließ er sie so, das Haar alles bedeckend, zur Aufnahme gehen und den Studiogast befragen; ihr Co-Moderator schien ein bißchen nervös diesmal. Auch eine Audio-Taste hatte das Gerät. Die hatte er zuerst vernachlässigt, aber jetzt kam ihm eine Idee. Denn er liebte auch ihre Stimme, die so geschmeidig-klug artikulierte und die so freundlich ihm zugewandt geradewegs aus ihren Augen zu strömen schien, sich anschmiegen an diese Stimme wollte er, und beim Schlafengehen heute würde er die Kopfhörer aufsetzen und sich vorstellen, wie sie ihm ihren Traum der letzten Nacht erzählte, kurz vor dem Einschlafen dann "Tipp" und seine Nacht würde erfüllt sein von ihrem Träumen, das freundlich und ihm zugewandt aus ihrem Mund und ihren dunklen Augen in seine Ohren strömte, unaufhörlich, ohne Pause, ganz nah bei ihm, bis zum Morgen. Denn er hatte auf Endlosschleife geschaltet. Das Gerät gehörte jetzt zu ihm, Knopf am Kopf, nur kurz beim Haarewaschen und Kämmen nahm er es noch ab, sogar unter der Dusche hatte er sich angewöhnt, das Geräusch des Wassers mit einem leisen Summen von ihr zu unterlegen. Aus dem Haus ging er noch seltener als immer schon, nur noch zum Einkaufen und Luftschnappen, und Batterienachkaufen für das Gerät; er hatte alles, was er brauchte. Eines Tages, beim Duschen und Summen, glitt er aus und schlug hin; die Tippknöpfe des Gerätes verkanteten sich und auf seinem Monitor zogen im Schnelldurchlauf alle Bilder vorbei, die er jemals von ihr in seinem Kopf gesehen hatte. Wenn sie ihn dann raustragen würden, dachte er noch schwach, jetzt dann gleich, würde ihm alles Äußere egal sein, auch daß gerade schon einer ihm ein Tuch bis über den Kopf zog; und sie würden nicht merken, daß ab jetzt sich nichts mehr änderte; sie erzählte ihm jetzt wieder ihren nächtlichen Traum, am Ende fing sie wieder von vorne an und er hörte sie wieder mit der Aufmerksamkeit von vorne und das war jetzt so für immer, die Zeit war gegangen, alles war so wie es war, und immer war es so gewesen, und niemals je würde es anders sein.

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Zuletzt aktualisiert: 28. Jun, 05:33

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